Die narzisstische Persönlichkeit: Ein Ur-Schrei nach nicht erhaltener Liebe

Fühlst du dich oft angegriffen und gekränkt?
Kannst du schwer mit Kritik umgehen?
Hast du Menschen in deinem Umfeld, die alles kontrollieren und andere manipulieren wollen?

Im heutigen Beitrag wende ich mich einem sehr heiklen und auch persönlichen Thema zu: der narzisstischen Persönlichkeit.

Es ist mein bisher längster Artikel!

Folgende Fragen sollen darin erörtert werden:
Was genau macht eine narzisstische Persönlichkeit aus?
Wie erkennt man eine narzisstische Persönlichkeit?
Gibt es einen Unterschied zwischen einem „gesundem“ und krankhaften Narzissmus?
Wie verbreitet ist der (pathologische) Narzissmus in unserer Gesellschaft?
Welchen Zusammenhang gibt es mit Hochsensibilität?

Das Thema Narzissmus beschäftigt mich schon seit einigen Jahren. Zudem stolpere ich über das Thema Narzissmus in letzter Zeit immer wieder: bei mir selbst, in meinem Umfeld, im virtuellen Kontakt mit anderen Bloggern und in den (sozialen) Medien. Aus meiner Perspektive scheint es geradezu allgegenwärtig zu sein, ein Phänomen unserer (postmodernen) Zeit.

Mein Ansatz ist es, dass Thema Narzissmus von allen Seiten zu beleuchten. Das heißt für mich, die Sichtweise der Betroffenen (oder Opfer) eines Narzissten UND die Sichtweise des Betroffenen selbst zu ergründen. Ich möchte die Unterschiede zwischen normalen narzisstischen Zügen, die wir alle haben, und denen einer behandlungsbedürftigen Persönlichkeitsstörung aufzeigen.

Wenn ich mich zum Thema Narzissmus in den (sozialen) Medien so umschaue, ob Onlineartikel oder Facebook-Gruppen, finde ich fast ausschließlich Berichte von Opfern von Narzissten. Ganze Webseiten oder Facebook-Gruppen widmen sich ausschließlich dem Umgang mit Narzissten, an welchen Merkmalen man sie erkennt oder wie man sich am effektivsten vor ihnen schützen kann. Verstehe mich bitte nicht falsch: Solche Seiten sind vollkommen berechtigt und wichtig. All diese Tipps und Warnzeichen kann ich absolut nachvollziehen, weil das Leben mit einer ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeit wahrlich kein Zuckerschlecken ist (worauf ich noch kommen werde). Er kann einen das Leben aus diversen Gründen wahrlich zur Hölle machen.

Oftmals fehlte mir bei meinen Recherchen aber etwas. Mir fehlte das Verständnis für den Betroffenen selbst. Für den Menschen mit einer ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Ein heißes Eisen, das ist mir vollkommen klar. Gerade für Opfer und Verfolgte eines Narzissten wird ein Verständnis nur sehr begrenzt vorhanden sein – aus nachvollziehbaren Gründen. Wie gesagt: Wie so oft in meinen Arbeiten, geht es mir um eine Darstellung von beiden Seiten.

Warum? Weil ein Mensch mit einer ausgeprägten narzisstischen Störung damit nicht zur Welt kommt. Er wird im Laufe seiner frühesten Kindheit dazu gemacht, und zwar aufgrund massivster emotionaler Vernachlässigungen, gegen die er sich in diesem Alter in keinster Weise wehren konnte. Er ist seinen engsten Bezugspersonen vollkommen ausgeliefert gewesen.

Ein gewisses Maß an gesundem Narzissmus (erst recht für uns Hochsensible) ist vollkommen normal und sogar wichtig, um unsere Grenzen zu wahren und einfach mal „nur an sich zu denken.“

Wir sehen: Narzissmus betrifft uns also alle in der einen oder anderen Form. Die entscheidende Frage ist hierbei: Wo verlaufen die Grenzen zwischen den normalen und pathologischen Zügen eines Narzissmus?

Mir ist bewusst, dass ich mit diesem Artikel dem einen oder anderen etwas auf die Füße treten werde (allen voran natürlich einem Narzissten!). Ich wage es trotzdem. Also, gehen wir es an. Und fangen wir am besten ganz am Anfang an.

Wie entsteht eine narzisstische Persönlichkeit?

Um die Ursachen unserer Gewohnheiten und Verhaltensweisen zu verstehen, müssen wir ganz tief in unsere Psyche hinabsteigen. Oftmals ist es einfach so, dass wir für die Erforschung unserer heutigen Verhaltensweisen als erwachsene Menschen an unserer Kindheit nicht vorbeikommen. Dies gilt für viele Themen, wie zum Beispiel einer Bindungsangst, und das gilt insbesondere auch für eine narzisstische Persönlichkeit. Es ist nun mal so, dass in den ersten Jahren unseres jungen Lebens die wichtigsten Grundpfeiler für unser weiteres Leben angelegt werden, allen voran was Bindungsfähigkeit, Selbstwertgefühl und emotionale Regulation angeht. In gewisser Weise ist das tragisch, weil wir in dieser Zeit komplett auf das Wohlwollen und die Zuwendung von unseren engsten Bezugspersonen (Eltern, Großeltern, etc.) angewiesen sind, sprich, unsere ganze weitere Entwicklung hängt in dieser prägenden Zeit von anderen ab. Von der ihrem Wohlwollen und eigenen Reife. Unter anderem deshalb liegt mir eine zeitgemäße, von Zuwendung und gelebter Liebe geprägte Erziehung von Kleinkindern so am Herzen.

Allgemein gilt der Satz: Umso früher eine Vernachlässigung oder Traumatisierung stattfand, umso schwerer ist diese später zu behandeln oder überhaupt erst mal aufzudecken.

In der aktuellen Forschung geht man von einem Zusammenspiel von biologischen, psychischen und Umwelt bezogenen Faktoren für die Entstehung einer narzisstischen Persönlichkeit aus. Neben einer gewissen genetischen Veranlagung, die jedes Kind bei seiner Geburt mitbringt, sind aber vor allem die glücklichen oder unglücklichen Umstände in der Kindheit und die liebevolle Zuwendung durch die Eltern für die weitere Entwicklung der inneren Anlagen und vor allem der Entstehung eines positiven Selbstwertgefühls maßgebend.

Zwei unterschiedliche Ursachen

Bei der Entwicklung einer narzisstischen Persönlichkeit mangelt es meistens in frühester Kindheit (0-5 Jahren) an Zuwendung und Aufmerksamkeit, Zärtlichkeit und Liebe sowie Interesse und Verständnis durch die Eltern. Soweit war mir das auch bekannt und hielt das für die Hauptursache einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Doch nach meinen Recherchen wurde ich eines besseren belehrt: „Es kann sich aber auch eine narzisstische Persönlichkeitsstörung entwickeln, wenn das Kind mit Liebe und Aufmerksamkeit überschüttet und mit allen Dingen des Lebens verwöhnt wird. Beide Erziehungsweisen wirken sich auf das Kind negativ aus, wobei das Ausmaß immer individuell entsteht, abhängig von der Disposition des Kindes, die es mit auf die Welt bringt und den Veranlagungen und dem Einwirkungsgrad der Eltern, insbesondere der Mutter. Damit sich das Selbstwertgefühl und die eigene Individualität des Kindes stabil entwickeln kann, muss das Kind in seinen Bedürfnissen unterstützt werden. Sieht es sich aber gezwungen, seine Bedürfnisse zu unterdrücken und sich der Außenwelt anzupassen oder kann es seine Bedürfnisse in extremer Weise ungehemmt ausleben, weil es keine Begrenzung erfährt, dann kann dies die Ursache für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung sein.“

Es gibt also zwei Ursachen für die Entstehung einer narzisstischen Persönlichkeit:

  • Ein Mangel an Zuwendung, Beachtung und Verständnis seitens der Eltern, wodurch das Kind nicht so geliebt wird, wie es ist und sich zeigt. Wird ein Kind nicht um seiner selbst willen geliebt, sondern nur aufgrund gewünschter Verhaltensweisen, kommt es irgendwann zu der Überzeugung, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung sei, dass es verkehrt sei. Für die kindliche Seele (und die Ausbildung der Individualität) gleicht  dieses Gefühl einem Erdbeben. Das Kind fühlt, dass es nicht liebenswert ist, sonst würde es ja von seinen Eltern Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren. Dass dieser Mangel an Liebe an den Eltern liegen könnte, darauf kann ein Kind nicht kommen. Das Kind lernt, dass es die (über)lebenswichtige Liebe und Aufmerksamkeit nur dann erhält, wenn es sich anstrengt und anpasst, es sich so verhält, wie es erwartet wird, wenn es brav und lieb ist. Langsam aber sicher beginnt das Kind immer öfters sich schuldig zu fühlen, seine kindliche Seele kann einfach nicht verstehen, warum es keine Liebe und Wertschätzung seiner selbst willen erfährt, seine Eltern sich im nicht zuwenden – ohne irgendwelche Erwartungen an sein Verhalten. „Es kann nur an mir selbst liegen, weil ich etwas verkehrt mache, weil ich verkehrt bin und mich nicht genügend anstrenge, um die benötigte Aufmerksamkeit zu erhalten“, ist der dahinterliegende Glaubenssatz, der sich immer mehr festsetzt. Es liegt auf der Hand (und ist gleichzeitig so bedauerlich): Ein Kind, dass solchen Erfahrungen ausgesetzt ist, kann nicht lernen, sich selbst zu lieben. Wie auch, wenn es selbst nie geliebt wurde. Es entsteht ein immenser (unterdrückter) Selbsthass. Dieser Hass ist für die kindliche Seele dermaßen schmerzhaft und unerträglich, dass das Kind ihn gleichzeitig nur verdrängen und projizieren (übertragen) kann. Es würde sonst daran regelrecht zugrunde gehen. Die Wurzeln für eine narzisstische Persönlichkeit sind gelegt. Das Kind entwickelt ein negatives Selbstbild („Ich bin falsch“), mit entsprechenden destruktiven Gedanken und Glaubenssätzen, dessen es sich auch später als Erwachsener (Narzisst) selten bewusst ist. Der Narzisst sehnt sich aber nach wie vor danach, von jemanden bedingungslos geliebt zu werden, obgleich er in der Kindheit gelernt hat, nicht liebenswert (falsch) zu sein. Diese bedingungslose Liebe (oder Ur-Vertrauen) bekommt das Kind in den ersten Monaten von der Mutter. Der Säugling hat eine symbiotische Verbindung zu der Mutter. Er möchte über die Mutter verfügen und von ihr gespiegelt werden. Der Säugling will die bedingungslose Wärme, Nähe und Liebe der Mutter spüren. Das ist sein Geburtsrecht, das ist in seinen Genen angelegt. Der Säugling erwartet diese Bedingungslosigkeit. Empfängt das Kind hingegen die Ängste der Mutter, deren eigenes Leid oder deren Erwartungen an ihn, so orientiert es sich an dem, was die Mutter braucht und spaltet seinen eigenen Gefühlen und Empfindungen ab. Für den Moment ist dies die „Rettung“. Doch zahlt das Kind dafür einen hohen Preis. Diese „Überlebensstrategie“ hindert nämlich das Kind daran, es selbst zu sein. Seine eigenen Bedürfnisse können nicht ausreichend integriert werden. Fortan braucht es für das eigene Wohlbefinden die permanente Bestätigung von außen.
    Das Kind (und der spätere Erwachsene) haben sich selbst verloren. Insofern können wir sagen, dass das süchtige Verlangen nach Aufmerksamkeit und Bewunderung im späteren Leben eines Narzissten nichts anderes als ein sehnsüchtiger Aufschrei des Säuglings ist. Ein Aufschrei nach der in der Kindheit vorenthaltenen Liebe. Nach einer Liebe ohne Bedingungen und Erwartungen.
  • Doch dann gibt es noch das andere Extrem. Diese Ursache war mir bisher neu, oder nicht in diesem Ausmaß bekannt. Eine narzissstische Störung kann sich danach auch durch eine Überversorgung oder Verwöhnung des Kindes ausbilden. Im ersten Moment hörte es sich für mich nach einem Widerspruch zu dem eben Gesagten an (Mangel an Aufmerksamkeit). Doch dann leuchtete es mir ein und mir fielen Beispiele aus meinem Umfeld ein.
    Wird ein Kind von seinen Eltern abgöttisch geliebt, bewundert oder idealisiert, lernt es nicht, Schwierigkeiten zu ertragen, mit Frustationen und Niederlagen umzugehen und Kränkungen zu verkraften. Die Bewunderung und die bevorzugte Behandlung wird es als lebensbestimmenden Faktor nehmen, was die Eitelkeit und das Gefühl der eigenen Großartigkeit, aber auch die Kränkbarkeit bei Missachtung fördert. Es sieht sich als Einzigartig und Besonders an. Oftmals sind solche Kinder überbehütet, die Mutter sehr dominat, der Vater abwesend. Gerade Jungen müssen oftmal als „Partnerersatz“ für die Mutter herhalten (erst recht wenn es in der Ehe kriselt). Ein solch abgöttisch geliebtes Kind, das keine Begrenzungen (Nein aus Liebe) erfahren hat, hat im späteren Leben große Schwierigkeiten, mit Problemen umzugehen. Es verhält sich hilflos und findet keine geeigneten Lösungen. Es ist gewohnt, dass andere (wie einst die Eltern) ihm die Probleme abnehmen oder vom Leib halten.
    Auch im Erwachsenenalter wird es seine Position als Hauptfigur genießen und kompromisslos ausleben. Selbst wenn die Eltern sicherlich versucht haben, in bester Absicht zu handeln, dem Kind so viel der wichtigen Liebe wie möglich mitzugeben, so führt dieser antiautoritäre Erziehungsstil dazu, dass die Eltern von ihrem Kind nicht mehr als eigenständige Individuen mit eigenen Bedürfnissen wahrgenommen werden. Aufgrund einer falschen Vorstellung von Liebe seitens der Eltern erfährt das Kind keine emotionale Resonanz und kann sein Verhalten folglich nicht spiegeln. Da es in seinen Eltern keine Respektspersonen sieht, an dem es sich orientieren kann, wird es auch später im Alter kaum Wertschätzung (und Mitgefühl) seinen Mitmenschen gegenüber entgegenbringen.

Egal, welche der beiden Ursachen wir für die Heranbildung einer narzisstischen Persönlichkeit nehmen, beiden ist gemein, dass eine fehlgesteuerte Liebe (in die eine oder andere Richtung) in frühester Kindheit zugrunde lag. Abgesehen von einer gewissen genetischen Disposition des Kindes, haben wir gesehen, dass eine narzisstische Persönlichkeit nicht damit geboren wird, sondern aufgrund seiner frühesten Sozialisation durch sein Umfeld dazu gemacht wird. Das soll keine Entschuldigung (oder „Ausrede“) für einen ausgewachsenen Narzissten sein, aber zumindest eine Erklärung.

 

Gibt es einen gesunden Narzissmus (Egoismus)?

Ja! Aber hier muss man äußerst genau hinschauen, um nicht in eine weitere Narzissmus-Falle zu tappen und die Begriffe genau differenzieren.

Soeben haben wir die Ursachen eines pathologischen Narzissmus kennengelernt. Für mich drängt sich gerade die Frage auf, ob es in unserer Entwicklung als Erwachsene so etwas wie einen gesunden oder normalen Narzissmus gibt? Falls ja, was diesen von einer ausgeprägten Persönlichkeitsstörung unterscheidet?

Nach meinen Recherchen ist mir klar geworden, dass es bei dieser Unterscheidung ganz elementar ist, genau hinzuschauen und keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen. Die beiden Begriffe, die bei einer richtigen Unterscheidung von patholoigschen und gesunden Narzissmus von tragender Bedeutung sind, sind Selbstliebe und Selbstverwirklichung. Der Paartherapeut Hilmar Benecke schreibt dazu: “ Ist Narzissmus mit übersteigerter Selbstliebe gleichzusetzen? Nein, da Narzissmus sich gerade durch die Abwesenheit eines gesunden Maßes an Selbstliebe auszeichnet. Man könnte ihn auch als eine Kompensationsform für mangelnde Selbstliebe bezeichnen. Vielleicht wird man dem Phänomen Narzissmus am ehesten gerecht, wenn man ihn mit „Selbst-Verliebtheit“ übersetzt. Denn genau so wenig wie Verliebtheit mit Liebe zu tun hat, hat Selbst-Verliebtheit mit Selbstliebe zu tun.“

Selbstliebe definiert sich als das uneingeschränkte Annehmen seiner selbst in Form einer bedingungslosen Liebe und ist eine wichtige Voraussetzung für die Beziehungen zu anderen Menschen und zur Welt. Genau diese uneingeschränkte Liebe hat ein krankhafter Narzisst aber nie erfahren. Daher lässt sich Selbstliebe auch klar vom Egoismus oder Narzissmus abgrenzen, denn während ein Egoist nur an sich selbst denkt und dabei über Leichen geht, ist ein sich selbst liebender Mensch stets darum bemüht, sein Ich, seine Wünsche und Bedürfnisse mit seinem Umfeld in Einklang zu bringen. Einem krankhaften Narzissten geht der Eigennutz vor Gemeinwohl und wenn er liebt, dann nur, um selber geliebt zu werden. Von daher ist es nicht zutreffend, von einem krankhaften Narzissmus zu sprechen, sondern eher von einer guten Portion Selbstlliebe, wenn man an sich und seine Bedürfnisse denkt, diese mit seinem Umfeld in Einklang bringen möchte, auch wenn man dabei einmal keine Rücksicht auf die Wünsche und Bedürfnisse seines Umfelds nimmt (Partner, Kollegen, Freunde). Mit einem Satz: Wenn man für sich sorgt und seine Bedürfnisse kommuniziert – was gerade uns Hochsensiblen oftmals immens schwer fällt. Es kommt auf das rechte Maß an.

Menschen mit einem rechten Maß an gesunder Selbstliebe oder einem stabilen Selbstwertgefühl zeichnet aus, dass sie Rückschläge, Niederlagen und auch Kritik erfahren können, ohne das sie dabei sofort sich als Person oder ihren Wert komplett in Frage stellen. Sie haben eine harmonische Ausstrahlung, ruhen in sich selbst und wirken ausgeglichen. Sie strahlen Verbindlichkeit und Wärme aus, sind gefestigt und stehen zu ihren Überzeugungen. Auf der einen Seite können sie geben, aber auch gleichermaßen nehmen. Sie sind tolerant und verständnisvoll anderen gegenüber, bleiben standfest und haben ein gesundes selbstbewusstes Auftreten ohne jegliche Form der Überheblichkeit. Sie sind Stolz auf die eigenen Leistungen und freuen sich über das Erreichte.

Das Streben nach Selbstverwirklichung und Anerkennung ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis, welches in jedem von uns angelegt ist. Es ist also völlig unzureichend und nicht gerechtfertigt, einen Menschen als „Narzissten“ zu bezeichnen, der dieses Bedürfnis nach außen hin lebt und kommuniziert. Oftmals wird diese Verhaltensweise aber zu schnell mit einseitigem Egoismus oder Arroganz gleichgesetzt. (gerade auch bei uns Hochsensiblen, wenn wir uns vorzeitig zurückziehen oder auf unsere Belastungsgrenzen achten). Hier muss man aber, will man den Unterschied zwischen einem gesunden und krankhaften Narzissmus richtig verstehen, sehr sorgfältig differenzieren. Ohne die konstruktive Seite dieser Energie kann menschliches Zusammenleben nicht funktionieren. Gesunder Narzissmus ist der Motor jeder Entwicklung, Leistungsfähigkeit, Widerstandskraft, Kreativität und jeden Fortschritts.

Leider ist es so, dass der Unterschied zwischen einem gesunden und krankhaften Maß an Narzissmus auf den ersten Blick schwer zu erkennen ist. Krankhafte Narzissten können nämlich nach außen hin ebenso sehr selbstbewusst wirken, ja, man erhält den Eindruck, dieser Mensch ist mit sich im Reinen, er liebt sich, wer er ist. Ein echter Narzisst hat Erfolg, kann sich abgrenzen und steht zu seinen Überzeugungen, er setzt sich durch. Doch der Schein (oder eher die Fassade) trügt. Dieser Artikel von Tim beschreibt sehr prägnant, woran man echtes Selbstbewusstsein erkennt, und wie es sich von dem „Selbstbewusstsein“ eines Narzissten unterscheidet.

Bei einem Menschen mit einer narzisstischen Störung kann man nicht von Selbstliebe sprechen. Eher von Selbst-Verliebtheit. Wie auch? Wie wir gesehen haben, hat er als Kleinkind diese bedingungslose Liebe niemals erfahren. Deshalb kann man ihn diesem Zusammenhang auch nicht von einem gesunden Narzissmus oder einer gesunden Selbstliebe sprechen. Alle Mittel und Verhaltensweisen, die eine narzisstische Persönlichkeit nach außen hin einsetzt, dienen lediglich der Kompensation des erlittenen Liebesverlustes. Der Kaschierung des dahinterliegenden, tiefsitzenden Minderwertigkeitsgefühls. Der bereits erwähnte Paartherapeut Benecke plädiert sogar dafür, die beiden Begriffe gesunder Narzissmus und gesunde Selbstliebe strikt voneinander zu trennen: „Die Selbstliebe richtet sich aufs Selbst, das heißt unter anderem: Zufriedenheit durch Sinneserfahrungen, Verbundenheit mit dem Sein, Genusserleben ohne Bedingung. Narzissmus dagegen dient dem Ego, das heißt Behauptung (und damit Schutz) von Persönlichkeit/ Identität sowie Hervorhebung von individuellen Stärken, Leistungen und Erfolgen. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung als Extremform des individuellen (gesunden) Narzissmus zeichnet sich insbesondere durch ein diffuses Minderwertigkeitsgefühl aus. Die damit zusammenhängende Anerkennungs- und Liebesbedürftigkeit dient der Kompensation.“

Merkmale einer narzisstischen Persönlichkeit

Das Wort Narzissmus ist in unserer Zeit in aller Munde. Immer wieder wird unsere heutige Gesellschaft als eine narzisstische bezeichnet, in der die Leistungs- und Wachstumsideale in Wirtschaft und Politik narzisstische Tendenzen in allen Lebensbereichen geradezu fördert. Erfolg, Leistung und eigennütziges Handeln sind die Schlachtrufe einer Leistungsgesellschaft. Im weiteren Verlauf werde ich auf diese Auswirkungen noch eingehen. Doch zunächst halte ich es für sehr wichtig, den mittlerweile landläufigen Begriff „Narzissmus“ von einer ausgeprägten narzisstischen Störung im Sinne des DSM (Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen)  zu unterscheiden. Dieses Klassifikationssystem wird von jedem Psychotherapeuten zur Bestimmung einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung herangezogen. Allzu oft passiert es nämlich, dass wir in unserem Umfeld Menschen mit vermeintlich narzisstischen Zügen entdecken, und ihnen sofort den Krankheitsstempel „Narzisst“ aufdrücken. (ja, auch ich habe das schon gemacht). Wie wir aber gesehen haben, gilt es hier genau hinzuschauen, da es nämlich durchaus Formen einer gesunden Selbstliebe gibt (die wiederum gerade für uns Hochsensible wichtig ist).

Um im Sinne des DSM von einer narzisstischen Persönlichkeit zu sprechen, müssen mindestens 5 der folgenden Kriterien erfüllt sein:

    1. Die Betroffenen haben ein grandioses Verständnis der eigenen Wichtigkeit. Sie übertreiben zum Beispiel ihre Leistungen und Talente oder erwarten ohne entsprechende Leistungen, von anderen als überlegen anerkannt zu werden.
    2. Sie sind stark von Phantasien über grenzenlosen Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe eingenommen.
    3. Sie glauben von sich, „besonders“ und einzigartig zu sein. Deshalb sind sie überzeugt, nur von anderen „besonderen“ oder hochgestellten Menschen verstanden zu werden oder nur mit diesen Kontakt pflegen zu müssen.
    4. Sie benötigen exzessive Bewunderung.
    5. Sie legen ein hohes Anspruchsdenken an den Tag. Das bedeutet, dass sie die übertriebene Erwartung haben, dass automatisch auf die Erwartungen eingegangen wird oder dass sie besonders günstig behandelt werden.
    6. Sie verhalten sich in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch, das heißt, sie nutzen andere aus, um ihre eigenen Ziele zu erreichen.
    7. Sie zeigen einen Mangel an Einfühlungsvermögen, das heißt, sie sind nicht bereit, die Gefühle oder Bedürfnisse anderer zu erkennen, zu akzeptieren oder sich in sie hineinzuversetzen.
    8. Sie sind häufig neidisch auf andere oder glauben, andere seien neidisch auf sie.
    9. Sie zeigen arrogante, hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten.

Weitere, wesentliche Charakterausprägungen einer narzisstischen Persönlichkeit sind:

  • eine übertriebene Selbstbezogenheit,
  • ein unersättliches Bedürfnis nach Anerkennung und Bewunderung,
  • ein – zumindest zeitweise – ins Grandiose tendierendes Selbstbild,
  • starke Schwankungen zwischen Idealisierung und Entwertung
  • Kontrollbedürfnisse und Machtstreben,
  • ein empfindlich gestörtes Selbstwertgefühl als Wunde, zu deren Behandlung die o.g. Bestrebungen und Bedürfnisse dienen.

Das wirklich perfide an dieser Persönlichkeitsstörung ist, dass sie lange Zeit für das (nähere) Umfeld nicht zu erkennen ist. Ein ausgeprägter (krankhafter) Narzisst ist ein wahrer Meister des Schauspiels, der aufgesetzten Masken, vorgetäuschten Gefühle und vor allem von diversen Macht- und Manipulationsinstrumenten. Dabei kann er blitzschnell seine Taktik ändern und variieren. Wie ein Chamäleon kann er sein situatives Verhalten ändern, sich den Begebenheiten anpassen. Er benutzt andere Menschen für seine Zwecke, sieht sie eher als Objekte als eigenständige Subjekte, mit eigenen Gefühlen, Anschauungen und Werten. All dies setzt ein Narzisst ein, um sich seines (nicht vorhandenen) Wertes sicher zu sein, keine Kritik oder Ablehnung zu erfahren, da diese ihn in seinen Grundfesten erschüttern würde. Ein weiteres, oft angewendetes Mittel, ist die permanente Abwertung von anderen. Ein Narzisst kann es nicht ertragen, wenn andere mehr Erfolg, Ansehen oder Anerkennung erhalten, wiederum aus Gründen des nicht vorhandenen Selbstwertes.

Hier eine kleine Auswahl an Instrumenten und Taktiken, wie ein Narzisst sein Umfeld beeinflussen und manipulieren kann:

    1. Sanftes Verhalten: Ausspielen des Charmes, Überzeugen durch sachliche Argumente, gute und wenn nötig auch verführerische Manieren einsetzen, rhetorisches Geschick, faires, aber hartnäckiges Diskutieren und Verhandeln, leichtes manipulieren, versteckte Kritik, Verwendung überzeugend klingender Unwahrheiten oder Gerüchte, Verteilung von Lob und Komplimente.
    2. Leidendes Verhalten: Bitten und notfalls auch Betteln, Verständnis und Loyalität einfordern, ans Gewissen appellieren, Mitleid erzeugen, Krankheiten und Schicksalsschläge vorspielen oder übertrieben darstellen, schluchzen und weinen, heulen, beleidigt sein.
    3. Lautes Verhalten: Fluchen, Wutausbrüche, Tobsuchtsanfall, schreien, brüllen, ungeduldig, gereizt, aggressiv, panisch, hitzig, kreischend.
    4. Aggressives Verhalten: Kritisieren, Drohen, Beleidigen, Einschüchtern, Beschuldigen, Vorwürfe machen, die Glaubwürdigkeit des anderen in Frage stellen, vor anderen schlecht machen, stures Schweigen, keine Beachtung dem anderen schenken, Geringschätzung, Ausgrenzung, Verachtung, Zynismus, Lügen, Spott, Ironie, Intrige, Abweisung von Schuld, Herabsetzungen, Entwerten, Unterjochung, anprangern, leugnen, verbales Verdrehen, emotionales Erpressen, Bluffen.
    5. Manipulatives Verhalten: Tatsachen vortäuschen, mit falschen Fakten argumentieren, Zeitdruck aufbauen, nicht verstehen wollen, blockieren und ausweichen, Informationen filtern, schlechtes Gewissen einreden, Erklärungen verweigern, überzeugend falsche Behauptungen aufstellen.

All diese Techniken setzt ein Mensch mit einer narzisstischen Persönlichkeit zur Destabilisierung und Manipulation des Anderen ein. Das verleiht ihm Macht und Kontrolle und somit Sicherheit vor Ablehnung. Dabei geht es sehr behutsam und wohl dosiert vor. Er hat sich unter Kontrolle und hält lange Zeit den Anstand und die Fassade. Nur wenn er sich emotional angegriffen fühlt, oder seine „sanften“ Instrumente nicht mehr wirken, kommt die kalte und bösartige Seite eines Narzissten zum Vorschein. Dann geht er über Leichen und kennt kein Pardon und Erbarmen mehr (fehlendes Mitgefühl). Die Scham und Angst vor zu offensichtlicher Böswilligkeit ist völlig außer Kraft gesetzt. Dieser zügellose, bösartiger Narzissmus ist dann der Nährboden für Kriege, Gewalt und rücksichtslose Ausbeutung.

Behandlung und Therapie einer narzisstischen Persönlichkeit

Die Behandlung und Therapie eines Narzissten ist äußerst schwierig. Ein ausgeprägter Narzisst versperrt sich in der Regel gegen jegliche Art von Hilfe und Beistand, weil er sich in seinen Augen ja für grandios und einzigartig hält. Was soll denn bitteschön an ihm verkehrt sein? Er ist so mit seinem falschen Selbst, all seinen Masken und Fassaden, identifiziert, dass er überhaupt keinen Grund sieht, sich in einen Therapeutenstuhl zu setzen. Er hat sich von seinem wahren Selbst, welches mit unendlichem Schmerz verbunden ist, komplett abgeschnitten. Damit aber auch von seiner Verletzlichkeit und Bedürftigkeit (die unter der Fassade nur so brodelt). Wahrscheinlich wird es sogar so sein, dass gut gemeinte Ratschläge aus seinem Umfeld, die eindeutige Merkmale eines krankhaften Narzissmus erkannt haben, sofort mit Widerstand und Kritik abgelehnt werden. Ein Narzisst empfindet sein Verhalten in keinster Weise als problematisch oder gar behandlungsbedürftig. Höchst wahrscheinlich wird er sogar im Zuge der Projektion (Abwehrmechanismus) seinem Gegenüber ein krankhaftes und problematisches Verhalten vorhalten (vielleicht sogar eine narzisstische Störung), und ihm dringend eine Therapie anraten!

Nein, es bedarf erst einer tiefen narzisstischen Krise, eines Schicksalsschlag (Kündigung, Scheidung, Schulden, Niederlagen etc.), damit sich ein Narzisst in eine Therapie begibt. Der Leidensdruck muss hoch genug sein. Doch selbst dann ist eine adäquate Behandlung der eigentlichen Störung schwierig. Eine narzisstische Persönlichkeit erwartet nämlich von dem Therapeuten eine bevorzugte Behandlung und kommt nicht, um geheilt zu werden, sondern um mit den Lebensschwierigkeiten besser umgehen zu können. Er hat ja im Grunde gar kein Problem mit der Persönlichkeitsstörung, er fühlt sich wohl in dieser Rolle und nimmt die Therapie lediglich an, um ein noch besserer Narzisst zu werden. Deshalb bedarf es für eine halbwegs erfolgreiche Therapie eines ausgesprochen erfahrenen und selbst reflektierten Therapeuten. In der Therapie wird der Narzisst nämlich den Therapeuten entweder übertrieben überhöhen (idealisieren) oder gnadenlos abwerten (je nachdem, wie gut der Therapeut das Manipulationsspiel des Narzissten mitspielt). Er gibt vor, alles besser zu wissen und glaubt, mindestens über dieselben Fähigkeiten und demselben Wissen zu verfügen wie der Therapeut. Für einen Therapeuten ist es daher anfänglich sehr ratsam, einem Narzissten nicht als allwissender und überlegener Fachmann zu begegnen, sondern als gleichberechtigter Mensch mit Fehlern und Schwächen.

Aufgrund dieses Verhaltens und der frühen Traumatisierung ist eine endgültige Heilung eines Narzissten kaum möglich. Es ist schon ein Erfolg, wenn sich das empathische Gefühl gegenüber den Mitmenschen verbessert und der Narzisst sich den Auswirkungen seines Verhaltens bewusster wird. Des Weiteren sollte ein Narzisst in einer Therapie lernen, seine eigenen Ansprüche zu reduzieren, sich zurückzunehmen, eine gewisse Anpassung an die Umgebung zu üben und die Probleme nicht nur bei anderen, sondern auch bei sich selber zu suchen.

Die narzisstische Gesellschaft?

Wir haben nun ausführlich die Ursachen, Charakteristika und Behandlungsmöglichkeiten einer narzisstischen Persönlichkeit kennengelernt. Beim Schreiben dieses Beitrages, aber auch schon in vorherigen Artikeln, stellte ich mir immer wieder die Frage: Leben wir in einer Zeit, die geradezu ein Nährboden zur Herausbildung eines krankhaften Narzissmus ist? Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz warf diese Frage schon in seinem lesenswerten Buch (Die narzisstische Gesellschaft*) im Jahre 2013 auf. In diesem Zeit Interview beschreibt er anschaulich, wie unser exzessiver Konsum mit einem pathologischen Narzissmus zusammenhängt, und warum die Politik und Wirtschaft so anfällig für ausgeprägte Narzissten ist.

Nach meinen Beobachtungen der letzten Jahre und aufgrund der umfangreichen Recherche für diesen Artikel, würde ich diese Frage eindeutig mit Ja beantworten! Was passiert mit jungen Menschen und ihrem Selbstbild in Zeiten von ewiger Talentsuche (Popstars, Deutschland sucht den Superstar, Germany’s next Topmodel, etc.)? Was passiert mit jedem Einzelnen in einem Arbeitsumfeld, in dem es nur noch um Leistung, Erfolg, Selbstaufgabe, Ausbeutung, Wille und Loyalität geht? In dem ein regelrechter Überlebenskampf herrscht und nur die weiter (nach oben) kommen, die gnadenlos ihre Ellenbogen ausfahren, kontrollieren, manipulieren und intrigieren. Was passiert mit Kinderseelen, wenn Eltern schon im Kindergartenalter Angst haben, dass ihr Kind nur „Durchschnitt“ ist, nicht genügend Förderung und Ausbildung erfährt, und deshalb irgendwann abgehängt wird?

Der deutsche Sozialpsychologe Hans-Werner Bierhoff spricht sogar von einer regelrechten „ICH-Inflation“. Sie habe sich so stark entwickelt, weil die sozialen Normen in den letzten 50 Jahren in den westlichen Kulturen stark abgenommen hätten. In diesem Vakuum konnte sich ein „offensiver“ Narzissmus ideal verbreiten. Als Orientierung dienen den Jugendlichen Vorbilder im Show- und Popbusiness – sie werden in eine narzisstische Gesellschaft hinein sozialisiert. Nach Ansicht des Psychologen Beat Stübi (2011) war der Narzissmus noch nie so verbreitet wie heute, denn in aktuellen Untersuchen zeigt jeder vierte Studierende erhöhte Narzissmus-Werte. Er verortet den Ursprung der narzisstischen Entwicklung nicht so sehr in einem Mangel an Aufmerksamkeit und Zuneigung in der Kindheit, sondern dass auch das Gegenteil von mangelnder Aufmerksamkeit zu Narzissmus führen kann: Verwöhnung. „Welche Eltern aus der Mittelschicht halten ihr Kind heute für nur ‚durchschnittlich‘? Viele heutige Kinder lernen, dass sie etwas Besonderes sind und sich alles um sie dreht. Wenn sich das überdurchschnittliche ‚Talent‘ dann im Laufe des Lebens nicht bewahrheitet, bleibt nur die Flucht in die ‚Illusion‘, um den Selbstwert nicht zu gefährden.“

Fazit

Wir sind am Ende angelangt. Es war eine lange Reise. Und ich danke dir schon jetzt für deine Aufmerksamkeit. Aus dem Artikel über das komplexe Thema Narzissmus ist eher schon ein Essay geworden. Mir war ein umfassendes Grundlagenverständnis zu diesem Thema sehr wichtig. Der Artikel „gärte“ über vier Monate in mir. Und soll ich dir was sagen? Ich hatte große Bedenken, mich an das Thema heranzuwagen. Zum einen, wegen den möglichen Reaktionen von ausgeprägten Narzissten, die den Artikel lesen (Stichwort: Kritikfähigkeit & Wut). Ich weiß von einer Bloggerin, die nach der Veröffentlichung ihres Narzissmus-Artikels massiv bedrängt wurde, solange, bis sie den Artikel wieder offline nahm. Daran magst du die Brisanz dieses Themas erkennen. Zum anderen, und das besorgte mich noch mehr, hatte ich Angst, mich in einigen Punkten wieder zuerkennen – was auch geschah. Und vielleicht ging es dir beim Lesen bis hierher genauso? Doch ich kann dich (und mich!) beruhigen: Jeder von uns hat bis zu einem gewissen Grad narzisstische Tendenzen, diese werden auch benötigt, um unseren Selbstwert zu regulieren. Ab wann es pathologisch (behandlungsbedürftig) wird, ist dir hoffentlich durch die weiter oben skizzierten Beschreibungen klar geworden.

Nach der Recherche und dem Schreiben, habe ich einen ganz neuen Blick auf das Thema Narzissmus bekommen. Zum einen, was meine eigenen narzisstischen Tendenzen angeht. Mir sind diese nun viel bewusster. Zum anderen habe ich ein ganz neues Verständnis für einen ausgeprägten Narzissten erhalten. Im Grunde ist solch ein Mensch nur zu bedauern, ja ein Stück weit empfinde ich sogar Mitgefühl für ihn, weil Narzissmus ein Ur-Schrei nach nicht erhaltener Liebe ist, der mit allen Mitteln verdeckt wird! Wie wir gesehen haben, hat ein Narzisst früheste traumatische Erfahrungen erlebt, mit denen er damals nicht umgehen konnte. Das ist keine Entschuldigung, dass er als Erwachsener sein Umfeld kontrolliert, manipuliert und mitunter auch terrorisiert. Aber zumindest eine Erklärung. Wenn der Artikel ein wenig zum Verständnis der Ursachen und den Behandlungsmöglichkeiten dieser schwerwiegenden Persönlichkeitsstörung beigetragen hat, hat er seine Aufgabe erfüllt. Gleichzeitig habe ich natürlich vollstes Verständnis für die Opfer eines ausgeprägten Narzissten, die unter seiner Art viel Leid ertragen müssen! Dieser lesenswerte Artikel interpretiert Narzissmus als Chance – und zwar für beide: für den Narzissten selbst und seinem Umfeld (z.B. Partner).

In den letzten zwei Jahren habe ich einige hochsensible Menschen kennengelernt. Bei manchen hatte ich den Eindruck, dass sie sich das „Etikett“ HSP um den Hals hängen, um sich nicht mit tieferliegenden Problemen (wie z.b. einer narzisstischen Störung) auseinanderzusetzen. Ich plädiere immer wieder dafür, und tue das auch jetzt wieder, genau hinzuschauen, was Veranlagung und was ein altes Trauma ist. Und sich mit beiden angemessen auseinanderzusetzen. Ich selbst tue das auch! Erst dann ist ein befreites und erfülltes Leben möglich. Daher lautet mein Credo zum Schluss: Sei ehrlich – mit dir selbst und deinem Umfeld!